Peter Sloterdijk, alternder Philosoph des Zeitgeistes, hat sich in der Neuen Zürcher Zeitung zu den Charakteristika eines zynischen Bewusstseins im 21. Jahrhundert geäußert. 35 Jahre nach seinem noch immer lesenswerten Bestseller Kritik der zynischen Vernunft schürt er nun die Angst vor einem “zynischen Obskurantismus”, der den Westen zu überrollen drohe.
Zynismus versus Kynismus
Zynismus ist das
aufgeklärte falsche Bewusstsein. Es ist das modernisierte unglückliche Bewusstsein, an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärungs-Lektion gelernt, aber nicht vollzogen und wohl nicht vollziehen können.
[Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp 1983, S. 37]
Peter Sloterdijk ist ein wortmächtiger Publizist und Zynismus-Kritiker. Seine 1983 erschienene Kritik der zynischen Vernunft hat den unkonventionellen und bis dahin unbekannten Denker quasi über Nacht in die Sphären der Vor-Denker katapultiert. Eine unterhaltsame Lektüre in der Zeit des Kalten Krieges, die den damaligen Zeitgeist getroffen hat, weil sie einen Herrschafts-Zynismus klug sezierte und zu einem frechen, widerständigen Kynismus aufrief. Schon damals gab es allerdings Stimmen, die Sloterdijks späteren Weg vom Zynismus-Kritiker zum Herrschaftszyniker bereits in eben jener Kritik der zynischen Vernunft angelegt sahen. Wenn er jetzt weiträumig viele seiner damaligen Thesen zum Zynismus als Nach-Denker widerkäut, interessiert die Zielrichtung seiner Wortkaskaden.
Einerseits: Lügen und Betrügen
Die “Impostur als Weltgeist” ist das Schlagwort, mit dem Sloterdijk die aktuelle mentale Großwetterlage zu umschreiben sucht. Im Gegensatz zu dem unverhohlenen Zynismus von 1983 umgebe sich das aktuelle zynische Bewusstsein auf der Seite der Herrschenden mit einem Deckmäntelchen aus Lügen und Betrügen.
Namentlich in Russland und in der Türkei, wo jede Opposition als Terror verfolgt werde, sieht Sloterdijk die Lüge auf dem Vormarsch, um die zynische Struktur des Systems zu verbergen. Diese als “zynischer Obskurantismus” gebrandmarkte Entwicklung ist die eigentliche Gefahr, die Sloterdijk zu einer den Westen bedrohlichen Welle aufbauscht. Ein Zynismus-Tsunami gewissermaßen, der um so machtvoller ist, je mehr der Zeitgeist von einem Lügen und Betrügen erfasst ist und darüber hinaus betrogen sein will.
Donald Trump etwa, ebenso ein Beispiel für die “Expansion der Staatslügen” wie für den Einfluss Putins auf die westliche Politik, sei von dieser Welle bereits erfasst in einen umfassenden Populismus abgetaucht, in dem die Lüge als expansive Massenerscheinung auf begeisterte Aufnahme unter seinen Anhängern treffe.
Andererseits: Die Welt will betrogen sein
Zynismus, als aufgeklärtes falsches Bewußtsein, ist eine hartgesotten-zwielichtige Klugheit geworden, die den Mut von sich abgespalten hat, alle Positivitäten a priori für Betrug hält ud darauf aus ist, sich nur irgendwie durchzubringen.
[Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp 1983, S. 950]
Trumps Erfolg beruhe nicht zuletzt auf der dem medialen System inhärenten Logik, zwischen der Expansion einer Information und ihrem Wahrheitswert nicht zu unterscheiden. Treffend beschreibt Sloterdijk die Kommunikation in den sozialen Medien als Konvergenz von “Medienpräsenz und Sein”, d. h. der Wahrheitswert einer Ausage wird um so weniger angezweifelt, je verbreiteter sie im Netz ist. Hieraus leitet er einen “postfaktischen” Effekt der sozialen Medien ab und unterstellt dem medialen Apparat insgesamt einen “latenten Zynismus”. Von hier ist es nicht mehr weit zum “Lügenäther”, den Sloterdijk an anderer Stelle wiederholt postuliert hat.
“Expansion der Staatslügen”, “zynischer Obskurantismus”, “Lügensysteme” – die Schlagworte prägen sich ein und bedienen ein rechtspopulistisches Klientel, ohne jedoch eindeutig Stellung zu beziehen. Sloterdijks Methodik verbindet eine eingängige Begrifflichkeit mit einer diffusen Vieldeutigkeit und bleibt so – absichtsvoll? – missverständlich.
Problematisch wird diese Vorgehensweise spätestens beim Thema Migration. Recht hat Sloterdijk, wenn er einen notwendigen Disput um die Durchlässigkeit nationalstaatlicher Grenzen konstatiert. Seine Zielrichtung wird jedoch deutlich, wenn er schreibt: “Schon jetzt ist zu erkennen, wie der universalistische Elan des Asylrechtsgedankens – gleichsam des humanen Kerns der Demokratien – schweren Schaden nimmt, sobald die Zahl der an Zuflucht Interessierten die Aufnahmekapazität der Zielländer übersteigt.” Hier werden die Flüchtlingsströme als Gefahr für das demokratische System insinuiert und den Rechtspopulisten gleich die Argumente an die Hand gegeben: “übers Können hinaus ist niemand zu Hilfeleistungen verpflichtet”. Das ist Herrschafts-Zynismus in seiner reinsten Form: die Souveränität definiert, was Können bedeutet.
Postfaktisches Wegdämmern alter Männer
Ich schlief mit einer Frau, die mich nach einer Stunde weckte, um mich zu fragen, ob meine seelische Liebe zu ihr auch meiner körperlichen Leistungsfähigkeit entspreche. Denn ohne “Seelisches” käme sie sich “beschmutzt” vor. […] erklärte ich ihr, daß meine Seele immer in jenen Körperteilen wohne, die ich gerade zur Ausübung irgendeiner Tätigkeit brauche. Also wenn ich spazierengehe, in den Füßen, und so weiter. “Du bist ein Zyniker”, sagte die Frau.
[Joseph Roth, Die Flucht ohne Ende, zit. n. Kritik der zyn. Vernunft, S. 902]
Der Sexualzyniker aus Sloterdijks Kabinett der Zyniker schiebt jeden romantischen Überbau beiseite und verkündet die sexuelle Selbstgenügsamkeit. Im Bröckeln eines erotischen Idealismus wächst die “postkoitale Ernüchterung” der Weimarer Literatur.
Der alternde Philosoph benutzt seine schöne und kluge Jugendliebe für die scheinbare Demaskierung des aktuellen Weltgeistes. Das postkoitale Erwachen verdämmert in postfaktischen Daunenkissen. Die einstige fröhliche Wissenschaft diffundiert zu einem obskuren Geraune im “Lügenäther”. Das befreiende Lachen von Diogenes in der Tonne gerät zu hohlem Gelächter aus dem Zynismus-Turm. Der Zyniker hat sich selbst dementiert – es lebe der Kyniker!