Klang-Puristen mögen erschaudern bei der Vorstellung, der Originalfassung für Pianoforte von Franz Schuberts (1797-1828) Winterreise musikalisch und choreografisch etwas hinzuzufügen. Doch die Inszenierung mit dem Tanz-Theater Münster unter der Leitung von Hans Henning Paar holt auf der Grundlage der Komposition von Hans Zender auch die gesellschaftlichen und politischen Bezüge des Liederzyklus in die Gegenwart.
Restauration oder das Ende der Romantik
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus …
Wilhelm Müller, Die Winterreise, 1823
Schon bei Wilhem Müller (1794-1827), dem Dichter der Winterreise, ist der Zyklus viel mehr als nur der Leidensweg eines vor der Liebe Flüchtenden. Müller hat mit Euphorie an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilgenommen und stand der nachfolgenden Restauration unter Kanzler Metternich kritisch gegenüber. Sein Text musss deshalb auch als politische Lieddichtung verstanden werden, in der die betrogene Vaterlandsliebe nach den Napoleonischen Kriegen thematisiert und Gefühlen wie Fremdheit und Verlorenheit in einer von restaurativen Kräften bestimmten Gesellschaft Ausdruck gegeben wird. Dabei beschreibt die Wanderung verschiedene Seelenzustände, die ihre jeweilige Entsprechung in der äußeren Topographie finden. Die eisige Winterreise wird so zur Metapher für den erlittenen Liebeskummer, für die (frei gewählte) gesellschaftliche Isolation und für die enttäuschte Hoffnung auf einen Nationalstaat.
Der illusionslose Blick auf die Wirklichkeit ist kennzeichnend für die Dichtung der Spätromantik. War bei den Frühromantikern mit dem Topos des Wanderns noch eine unbeschwerte Sehnsucht nach unerreichbarer Ferne verbunden, erstarrt die spätromantische Winterreise zu nackter Hoffnungslosigkeit.
Ein Kranz schauerlicher Lieder
Die “Winterreise” ist für mich etwas Urdeutsches. Die Romantik hat sehr viel mit unserer Kultur, unserem Seelenleben zu tun. Das ewig Suchende, Sehnsuchtsvolle, aber auch Zweifelnde ist etwas, das der deutschen Seele sehr zu liegen scheint.
Hans Henning Paar
Aber gerade die tiefe Trauer und das Gefühl der Entfremdung in der Winterreise spricht uns heute an. Hans Henning Paar übersetzt diese melancholische Grundstimmung in Bewegungssprache einerseits und in Bühnenbildnerei andererseits. Nur vereinzelt wird der Text bei Paar wörtlich bebildert, etwa wenn in der fünften Strophe der besungene Lindenbaum Gestalt annimmt. Aber selbst hier wird der ursprüngliche Deutungshorizont insofern erweitert, als es aufgrund der Personifizierung des Baumes durch einen schwarzen Tänzer auch ein ganz anderer Baum sein könnte, der die inhaltliche Sehnsucht nach Heimat heraufbeschwört. In Zeiten großer Migrationsströme sind Fremdsein, Heimatlosigkeit und Unbehaustsein gesellschaftlich relevante Themen, die in der Winterreise schon in der zweiten Strophe emergieren, wenn Paar den “armen Flüchtling” in der Manier gewaltbereiter Demonstranten auspfeifen lässt.
Beim “Leiermann” endlich verschwindet außer der zeitlich-metrischen Orientierung auch noch die harmonisch-räumliche Stabilität, indem durch immer neu hinzugefügte Unterquinten (abgeleitet aus dem 4. Takt des Schubert-Liedes) die Gestalten ihre “Beziehung zum Boden” verlieren und am Schluss gleichsam “in die Erde sinken”.
Hans Zender
Das Bühnenbild visualisiert die Entfremdung mit einer großen Fensterfront, die den Bühnenraum in ein Innen und Außen trennt. Eine hohe Wand wird zur Projektionsfläche, auf der sich die Schatten des Todes und der Vergangenheit ein Stelldichein geben. Vielleicht nicht zufällig erinnert dieser Schattentanz an die Bilder mittelalterlicher Totentänze. Gegen Ende der Winterreise löst sich das Bühnenbild komplett auf, es bleibt allein der projektive, illusionäre Gedanken-Raum. Im eindringlichen Schlussbild liegt des Sängers Alter Ego seiner Kleidung beraubt auf hart gefrorenem Boden, umkreist von schließlich nur noch einem Tänzer (ein letzter Gedanke?), bis der Vorhang fällt.
Ich werde euch einen Kranz schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin neugierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war.
Franz Schubert, 1827
Dieser Art entblößt ist ein Überleben des Wanderers kaum denkbar. Musikalisch scheint das Schicksal des lyrischen Ichs ohnehin besiegelt, bei Schubert als auch bei Zender. Dessen Komposition für Orchester von 1993 verliert gegen Ende, wie Zender sagt, jegliche “harmonisch-räumliche Stabilität”, bis die Tänzer am Schluss gleichsam “in die Erde sinken”. Und wir nehmen ein “schauerliches” Gefühl mit nach Hause, das uns beim Hören der Originalversion von Schubert unter dem romantisch anmutenden Wohlklang eines Klaviers wohl verborgen geblieben wäre.