Antworten auf Fragen zu unserer „digitalen Gesellschaft“ bietet das wunderbare Buch Wir verschwinden – Der Mensch im digitalen Zeitalter der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel. Den nur 72 Seiten starken Band hat 2013 der Kein & Aber Verlag veröffentlicht. Er ist eine Art Manifest für die Freiheit der eigenen Entscheidung.
Wir verschwinden – und die Zukunft gehört den Gespenstern
Die modernen Technologien fördern fiktionale Lebensentwürfe. Das wussten wir zwar vorher schon, Miriam Meckel aber blickt äußerst kulturpessimistisch auf diese Feststellung.
“Wir verschwinden aus dem Sichtbaren unserer realen Lebenswelt ins Unsichtbare der multimedialen Überwürfe.”
Schon 1983 hat Jacques Derrida in dem Film Ghost Dance diese Entwicklung thematisiert. In dem Film spielt er sich selbst, sein Monolog über Gespenster ist nicht vom Drehbuch vorgegeben. Die Szene ist eine schöne Parabel für die Ausgangssituation des “wir verschwinden”. Am Ende hat Derrida seine Filmpartnerin von der Existenz der Gespenster überzeugt. Und bleibe doch immer, so Meckel, nur ein fiktiver Entwurf seiner selbst. Denn schaue man sich heute diesen Film an, sehe man – da beide Schauspieler nicht mehr leben – zwei Gespenster miteinander reden.
Zwischen digitaler Aufklärung und digitaler Verklärung
Das Problem in der “schönen bunten Welt” des Digitalen verortet Meckel in dem mangelnden Interesse an Aufklärung. Viele Online-Aktivitäten fänden nicht mehr im offenen virtuellen Raum statt, sondern in streng abgegrenzten Bereichen großer Internet-Konzerne wie Apple oder Amazon. Dort werden alle Informationen vorselektiert, damit das Denken ausgeschaltet werden könne. Die Utopie, von der in den Anfangsjahren die Rede gewesen sei, werde darüber vergessen: mehr Partizipation, mehr Demokratie, Wirtschaftswachstum für alle, Freiheit der Information.
Schreiben als Kulturtechnik
Man muss nicht selbst, wie die Autorin, Verfechterin handschriftlich verfasster Briefe sein, um zu erkennen, dass die Digitalisierung von Kulturtechniken die Wahrnehmung verändert: Individuelle Zeichen etwa der persönlichen Handschrift verschwinden zugunsten einer standardisierten Oberfläche.
“Wo wir uns immer mehr vom Materiellen, von der im Wortsinne fassbaren, auch körperlichen Erfahrung trennen, da ändert sich unsere Wahrnehmung.”
Das betrifft, wie Meckel herausstellt, nicht nur Büroprogramme sondern die gesamte Datenwelt: alle unsere Daten vereinigen sich in einem einzigen Datenstrom einer globalisierten Benutzeroberfläche. In dieser Vereinheitlichung wird die Identität zu einer wertvollen Handelsware.
Personalisiertes Internet
2009 änderte Google seinen Suchalgorithmus und stellte von der generalisierten auf die personalisierte Suche um. Seitdem werden die eigenen Suchanfragen mit vorherigen Suchanfragen und Suchergebnissen verglichen und mit einer Menge anderer Daten korreliert. Die Folge ist ein personalisiertes Suchergebnis, das zu den eigenen bisherigen Präferenzen passt.
“Und so verändert sich unser Weltbild, weil wir uns zunehmend mit den Dingen beschäftigen, die uns liegen, die wir mögen und die uns deshalb immer wieder von den Algorithmen von Google, Facebook und Co. vorgelegt und empfohlen werden.”
Das Leben in der “Filterblase” beschreibt Meckel als eine unendliche Reproduktion seiner selbst, Zufallsentdeckungen werden konsequent herausgerechnet. In Zukunft werde die “Filterblase” eher noch enger geschnürt, denn Google bemühe sich seit geraumer Zeit, nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragen vorherzuberechnen. Ein Aspekt, den Frank Schirrmacher kürzlich mit dem Begriff der “digitalen Prädestination” beschrieb.
Maschinenjournalismus
Wenn der Zufall und mit ihm neuartige Informationen und Erfahrungen konsequent aus der Welt herausgerechnet werden, werden wir anders über relevante Fragen des Lebens nachdenken.
“Alles verschwindet in einem Netzwerk des Ubiquitären, in dem alles, was war, und alles, was sein wird, immer schon vorhanden ist.”
Schon heute ist der Nachfragejournalismus Realität, wie Meckel anhand des Medienunternehmens Demand Media zeigt: Textfließbandarbeiter produzieren Artikel entsprechend den Suchanfragen im Netz. Bei Narrative Science schreiben seit Jahren hoch entwickelte Algorithmen Berichte über Börsenentwicklungen oder Fußballspiele. Bedenkenswert sei dieser Prozess, weil wir es mit immer mehr maschinengemachten Texten zu tun haben, die sich selbst reproduzieren.
Das digitale Panopticum
Der Wunsch nach totaler Transparenz, so Meckel, schlägt oftmals in sein totalitäres Gegenteil um. Mit zunehmender Transparenz wird das eigene Leben immer unsichtbarer. Die Individuen verschwinden, da wir die zugrundeliegenden Regeln und Mechanismen immer weniger verstehen.
“Sind wir nicht als Kinder der Sonne 2.0 Teil einer ‘Positivmaschine’, die Denken durch Rechnen ersetzt, Ambiguität durch Zweifelsfreiheit und Aufklärung durch totale Transparenz?”
Daraus folgt die Auflösung von Privatheit, Rückzugsräume sind in einer Transparenzgesellschaft nicht mehr vorgesehen. Soziale Netzwerke sind transitiv und wir haben keine Kontrolle über die einmal eingestellten Inhalte.
Die gegenseitige Beobachtung im Netz wird vermutlich zu einer digitalen Disziplinargesellschaft führen, wie sie Foucault für die herkömmlichen Techniken ausführlich in Überwachen und Strafen beschrieben hat. Aber heutzutage reicht die digitale Technik mit ihren Algorithmen aus, um selbst die Gedankenfreiheit ad absurdum zu führen. Der Staatstrojaner beispielsweise, der im Herbst 2011 in Deutschland für Aufsehen sorgte, hat eigenmächtig Screenshots (von zufällig ausgewählten Ansichten) angefertigt und versendet.
Die Mensch-Maschine
“Und irgendwann folgt vermutlich auch der letzte Schritt: die Verbindung unserer Gehirne zu einem neuronalen Netzwerk.”
Meckels Zukunftsvision ist düster. Bislang hatten wir, wenn wir ins Internet gingen, ein Interface vor uns, eine Schnittstelle zwischen realer und virtueller Welt. Mit Google-Glass verschwindet diese Barriere, Informationen aus dem Netz werden direkt ins Blickfeld projiziert. Durch Hirnimplantate werden in Zukunft auch diese Schnittstellen wegfallen. Einem US-Forscherteam ist es bereits gelungen, zwei Rattenhirne zu einer Computereinheit zu verbinden.
Deshalb beharrt Meckel auf einer Markierung von Differenz zwischen dem Materiellen und dem Virtuellen. Denn mit dem Verschwinden der (analogen) Schnittstellen wird auch dieses Wissen der Differenz verschwinden. Und damit die Fähigkeit zu entscheiden.
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