CTRL: Narrative Konsistenz vs. prädikativer Algorithmus
Daniel Kehlmann hat ein Experiment gemacht: Auf Einladung der österreichischen Institution Open Austria ist er Anfang 2020 nach Palo Alto im Silicon Valley gereist, um die Möglichkeit zu testen, in Kollaboration mit einer Künstlichen Intelligenz einen Text zu generieren. Der Schriftsteller gibt also ein paar Sätze vor, drückt die CTRL-Taste und schon übernimmt der Algorithmus mit der sinnigen Bezeichnung “CTRL”. Ein Algorithmus hat kein Sprachgefühl, er kennt keine Grammatik und keine Zeichensetzung. Kann ein Algorithmus Geschichten erfinden?
CTRL gehört zu der Sorte prädikativer Algorithmen, die die Besonderheit aufweisen, sich auf die Zukunft zu konzentrieren. Sie nehmen Wahrscheinlichkeitsregeln in ihre Berechnung auf und treffen eine Voraussage über zukünftige Ereignisse anhand statistischer Auswertungen. Dabei stützt sich der Sprachalgorithmus auf einen riesigen Datenpool aus Wortfragmenten, die aus den Wortfragmenten selbst sowie ihrer statistischen Relation zu jedem anderen Wort bestehen. In einem komplizierten Regelsystem wird dann das statistisch wahrscheinlichste Wort und in einem noch komplizierteren Regelsystem gerade das weniger wahrscheinliche Wort ausgegeben.
Gespannt drücke ich die CTRL-Taste, und der Algorithmus setzt fort: When we got inside, we saw a man sitting on his bed reading a book. Nun wieder ich: “Who are you guys?”, he asked without moving. Und CTRL setzt fort: My name is
This
This
This
This
This
[…]
Das funktioniert anfangs überraschend gut. CTRL erkennt Dialoge, reagiert auf Sprachwechsel und holt so einiges aus der Fülle seines Datenpools hervor. In einigen luziden Momenten der Künstlichen Intelligenz will der Schriftsteller sogar Anzeichen von Inspiration entdeckt haben. Doch leider stürzt CTRL nach wenigen Absätzen die “innere Logik” ab und der Text zerrinne auf eigentümlich dadaistische Weise, so Kehlmann.
THIS … In objektorientierten Programmiersprachen wie beispielsweise Java liefert das Schlüsselwort “this” eine Referenz auf das Objekt, in dem man sich gerade befindet. Eine Selbstreferenz zur Vermeidung von Namenskonflikten. Da kann es einem tatsächlich wie Kehlmann eiskalt den Rücken herunterlaufen.
Ein Text, der künstlerisch hätte bestehen können, ist dabei allerdings nicht herausgekommen. Seine Erfahrung, wie eine Künstliche Intelligenz aus den dunklen Tiefen der statistischen Abschätzung konsistente Sätze erstehen lässt, hat Kehlmann in seiner Stuttgarter Zukunftsrede beschrieben. Das Ergebnis ist einigermaßen erwartbar. Niemals sei ihm CTLR wie ein bewusstes Gegenüber vorgekommen, betont Kehlmann. Und doch beschleicht ihn die Ahnung, dass sich dies in ferner Zukunft womöglich anders anfühlen könnte. Einstweilen darf getrost weitergeschreiben werden, die schriftstellerische Tätigkeit ist noch lange nicht obsolet.