Besser im Glückssimulator als gar kein Wind im Getriebe. Besser laufend dem obskuren Sog der Gravitation entkommen und darüber schreiben, was man laufend denkt. Beziehungsweise darüber schreiben, was man denkt, was man laufend denken würde, wenn Logik sich auflöst in Assoziationsketten und Denken in Körpergefühl, Sinneswahrnehmung und puren Rhythmus.
Zero
Soll ich wirklich aufstehen? Draußen ist nasskalter Herbst. Ich könnte einfach liegenbleiben, noch eine Runde dösen oder duschen und später wie geplant ins Kino gehen. Das Salz der Erde ist in der arte-Mediathek verfügbar. Also laufen. Aber was soll ich anziehen bei dem trüben Wetter? Schwarz? Rot? Lange Hose? Dreiviertel Tights? Ringelsocken gegen Trübsinn, soviel steht fest. Dazu die schwarzen Laufschuhe und die Jacke in Hibiskus Pink (jawohl). Testlauf für deren Atmungsaktivität, außerdem hat sie Taschen, da passt sogar das Handy rein.
Kilometer 1
Und los geht’s. Gar nicht so schlimm, wie es aussieht. Es regnet auch nicht. Nur das Handy stört. Zurück? Nein, nach zwei Kilometern werde ich nicht mehr daran denken. Das Schultergelenk ist noch ein bisschen steif, die stupide Bewegung wird allerdings Muskeln und Sehnen eher reizen. Da ist der wieder, der nie guckt, seine Jacke in der linken Hand zerknüllt und bestimmt schon länger unterwegs ist. Ganz flott, der alte Miesepeter. Im Kanal zieht unbehelligt der Sonnenaufgang vorüber. S-U-N-R-I-S-E – in schwarzen Lettern auf weißem Grund. Auf Grund gelaufen. Die Barken markieren Kilometer eins – was sagt denn die Uhr? Ruhiges Warmlauftempo.
Kilometer 2
Jetzt bloß nicht gleich schneller werden, es sind noch etwas mehr als 13 Kilometer. Der Rote ist bestimmt ein Fußballer mit seinen kleinen, schweren Schritten und der spitzwinkligen Armhaltung. O-Beine hat er allerdings nicht, vielleicht doch kein Fußballer. Der klimpernde Schlüsselbund in der Hosentasche würde mich ziemlich nerven. Das Handy nervt.
Kilometer 3
Langsam wird mir warm. Für 11 °C habe ich doch die falsche Jacke gewählt, jetzt wird sie sich beweisen müssen. Im morastigen Unterholz flattern die rot-weißen Reste einer Polizeiabsperrung. Welcher Tatort läuft eigentlich heute Abend? Letzten Sonntag hat Anja behauptet, Murot, aber dann war es doch nur der Ludwigshafener. Mit etwas Glück hat Anja sich um eine Woche vertan.
Kilometer 4
Leicht bergab auf der alten Dorfstraße mit dem Eichenbestand, an beiden Seiten bröckelt der Asphalt. Pi. Off Life. Was fotografiert der da? Einen Vogel? So dicht dran? Der fliegt bestimmt auf, wenn ich vorbeikomme. Vögel hassen Läufer und Vögelfotografierer hassen Läufer noch viel mehr. Er wird mich mit bösem Blick verdammen. Rote Blätter. Weinrot wie im Herbst der Wein an unserer Wohnung in der Wormser. So viel Laub. Und so viel Wasser, das dunkel über dem Rieselschlamm steht. Black Holes. Weglaufen bringt nichts. Wer sich jagen lässt, stürzt trotzdem irgendwann hinein. Kopfüber.
Kilometer 5
Scary Monster am linken Fuß. Der rote Schnürsenkel wieder. Immer die roten, die anderen halten tadellos. Vielleicht sollte ich es doch mit einer anderen Schnürtechnik probieren. Blödsinn, die Schnürtechnik ist perfekt. Fester schnüren will ich auch nicht, das gibt nur wieder Druckstellen. Der rechte Arm wird zunehmend ein Fremdkörper. Muss mal wieder ausschlenkern. Bizepssehne gereizt, Teres Major verspannt, Humerus Kapsel schmerzempfindlich. Wird sich das jemals normal anfühlen?
Kilometer 6
Gleich fängt es an zu stinken. Noch nicht, immer noch nicht, aber gleich – nanu, stinkt ja gar nicht. Wird da heute nicht geklärt? Sind wohl alle in Herbstferien, da wird ja auch weniger produziert. Doch, jetzt, von Mangelproduktion kann keine Rede sein. Vorsicht – Erstickungsgefahr! Am besten die Luft einhalten. Das habe ich aus Angst vor dem Erstickungstod als Sechs- oder Siebenjährige auch immer getan, wenn ich auf dem Schulweg am mannshohen schwarzen Silo vorbeikam, wo dieser Warnhinweis zu lesen war: Vorsicht – Erstickungsgefahr! Hätte ich das auch gedacht, wenn ich nicht vorgehabt hätte, darüber zu schreiben?
Kilometer 7
Die Warnung vor dem Eichenprozessionsspinner hängt immer noch im Baum. Dabei ist das gar keine Eiche, sondern irgendein Obstbaum. Soll ich nicht entlich mal ein Foto machen? Bloß nicht anhalten, bin gerade so gut im Rhythmus. Wozu habe ich eigentlich das Handy mit? Bescheuert. Um Hilfe zu holen im Falle eines Unfalls? Alleine wäre das nie passiert. Wettstreit-Ehrgeiz.
Kilometer 8
Ein freilaufender Hund im Gebüsch. Nein, ein Reh zeigt seinen Bürzel und springt davon. Bürzel? War das nicht das Dings des Federviehs? Und warum heißt der Hase Meister Lampe? Wegen seinem Rücklicht? Hinter der nächsten Baumgruppe geht es links ab für die große Runde. Quatsch, noch eine weiter, ich vertue mich immer noch. Dabei bin ich diese Strecke schon so oft gelaufen. Was für ein schönes Blatt am Wegesrand. Und dort erst. Hach, ich könnte alles fotografieren. Die macht da mitten auf der Wegekreuzung Gymnastik. Warum schaut die mich so an? Sehe ich erschöpft aus? Ich fühle mich blendend. Die endogene Glücksmaschinerie ist angelaufen, die Endorphinproduktion läuft bereits auf Hochtouren. Dopamin. Serotonin. Endocannabinoide. Hauptsache, es wirkt.
Kilometer 9
Im Zick-Zack-Kurs an der Kläranlage vorbei. Alles normal diesseits der Luftschneise. Die Sehne springt. Nichts ist normal jenseits der Zeitschneise. Es ist mir egal, ob das vermeintlich mechanische Problem auf einer gelockerten Schraube beruht oder eine bloß subjektive Beeinträchtigung ohne medizinische Indikation ist. Der Schmerz ist da, die Platte kommt raus. Proximal Humerus Interlocking System = PHILOS (Hoho).
Kilometer 10
Jetzt bin ich unversehens schneller geworden, Rhythmuswechsel auf 2/4, tief durchatmen und einatmen auf links, zwei, drei, ausatmen auf rechts, fünf, sechs, geht doch. Noch vier Kilometer, halte ich das Tempo durch? Einatmen auf links, zwei, drei, ausatmen auf rechts, fünf, sechs. Läuft. Welchen Rhythmus bin ich eigentlich früher gelaufen – 4/8? Mal probieren: Einatmen auf links, zicke, zacke, zick, ausatmen auf links, zicke, zacke, zick, zick, zick … Ich bin doch keine Nähmaschine. 14 cm Naht. Die alte Narbe wird von oben bis unten ausgeschnitten. Sieht hinterher besser aus. Ich bleibe bei 3/6 – Konzentration.
Kilometer 11
Bin schon wieder im 2/4 – was sagt denn die Uhr? Ooops, tatsächlich so schnell? Letztens hatte ich an dieser Stelle eine Pace von 4:53, was unter aeroben Bedingungen schlechterdings nicht sein kann und auf dem nächsten Kilometer eine Pace von über 7, was auch nicht sein kann. Unzuverlässiges GPS. Komisches Wetter: Septembertemperatur, Oktoberfarben, Novemberlicht auf dem milchig grünen Wasser. Geregnet hat es nicht, die Weste wäre perfekt gewesen. Das Handy habe ich ohnehin nicht gebraucht.
Kilometer 12
Wann stellt der Körper eigentlich von Fettstoffwechsel um auf Notstoffwechsel? Wenn alle Fette verbrannt sind? Kommt dann der berüchtigte Mann mit dem Hammer? Laufe ich eigentlich nüchtern, mit dem halben Liter Kaffee und dem Energieriegel, den ich mir gegönnt habe? Hm.
Kilometer 13
Homerun. Der Raps steht immer noch gelb auf dem Feld, es fehlt aber Sonne für ein schönes Bild. Sabine hat wegen der vielen Rapsfelder in Marburg angefangen zu studieren. Sabine …
Kilometer 14
Soll ich gleich den Maulwurfshügel im Spurt nehmen? Wie hieß noch diese steile Straße in Cölbe, wo wir früher Bergsprints trainiert haben? Und danach im Dunkeln mit dem Fahrrad über den Weißen Stein nach Hause. Jetzt bin ich doch schon oben, ohne Sprint. Reicht auch. Ich könnte ewig laufen, wenn nur die Knie nicht wären. Sch… Verschleiß. Fette sind noch ausreichend vorhanden. Schade, schon fertig. Ging wirklich schnell heute. Ich möchte wissen, was ich auf den nächsten 14 Kilometern denke. Hoffentlich machen die Knie das mit.