lechtal

Jochpasspupsen

Nicht nur eine Frage des Stils. Freilaufbeat und Metal-Smoothie.

Ich habe nichts gegen Männer, die am Sonntag ihre Plauzen aufs Oberrohr legen und mit abgespreizten Knien übers Pflaster schaukeln wie ein Seemann auf Landgang. Ich habe auch nichts gegen Menschen, die sich mit Hilfe von E-Bikes in Bewegung halten, solange sie ihr Rad beherrschen und es nicht im Fahrradabteil der Deutschen Bahn vollgepackt und ungesichert abstellen, weil die ganze Bagage ohnehin viel zu breit und schwer für das fehlgeplante Hängesystem ist. Ein spontanes Bremsen auf freier Strecke und mein Rad ist ein Totalschaden. Ich akzeptiere trotz dieses Angriffs auf meine Nerven und meine Contenance, dass E-Bikes ihre Berechtigung und selbst E-Rennräder eine Nische haben, wenn alte Herren mit Stil wie Alfred Gaida, 1972 deutscher Meister im Straßenrennen der Amateure, sich heute bei seinen Ausfahrten im Taunus von einem Motor unterstützen lassen. Aber einer, dem nicht nur die Kräfte sondern auch die Sinne schwinden, möge bitte spazieren gehen – und nicht mit einem E-Rennrad bei Gruppenausfahrten Leib und Leben aller riskieren. Und jeder Verkäufer, der einem senilen Rentner ein solches Rad andreht, gehört gerädert und hernach auf selbiges geflochten.

Abgesehen von dieser Inkonvenienz ist der Rad-Marathon im Tannheimer Tal eine hervorragend organisierte Veranstaltung mit hohem Anspruch und familiärem Flair. Mag sein, dass der beschauliche Ort außerhalb der Skisaison überwiegend von Senioren heimgesucht wird, in den Tagen rund um das erste Juli-Wochenende ist das anders. Und da es im gesamten Tal keinen Bahnhof gibt, bedeutete die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln für mich nach knapp 10-stündiger Reise noch einen Ritt mit Sack und Pack über den Oberjochpass, der mit 1178 m immerhin der zweithöchste Pass in den Allgäuer Alpen ist.

Bei Bad Hindelang schlängelt sich die Deutsche Alpenstraße in neun Schleifen den Berg hinauf nach Oberjoch. Die weit ausschwingenden Kehren werden an zwei Stellen von der alten Passstraße gekreuzt, die deutlich steiler, schmaler und unwegsamer ist. Mein Navi besteht auf Abkürzung, doch ich bleibe auf der “neuen” Wegeführung  von 1895 mit einigermaßen gleichmäßiger Steigung, die auch mit Gepäck noch gut zu fahren ist. Am frühen Montagabend ist wenig Verkehr und ich  habe den Berg fast für mich allein.

Nur die Straße, die Kurve, mein Schweiß und ich – da mag der transalpine Deuter noch so gut belüftet sein. Ab und zu öffnet sich der Baumbestand für einen schönen Blick ins Tal, aber wer am Berg für ein Foto absteigt … muss schon ziemlich gute Beine haben … Einen Zwischenstopp an der Aussichtskanzel mit Blick auf Hindelang lege ich dann doch ein, bevor ich kurz darauf Oberjoch und dann die Passhöhe erreiche.

Drei Tage später in der Mittagshitze derselbe Pass noch einmal. Wenn ich dürfte, wie ich könnte, würde ich jetzt einfach rüberhopsen, doch der Gruppenzwang nötigt mich zum Warten an der Kanzel. Mehr Höhenmeter sind auch am Sonntag auf der 130 km-Strecke nicht zu erwarten. Jochpasspupsen …

Die nachhallendste Begleiterscheinung der Rennradwoche im Tannheimer Tal ist das satte Surren gut geschmierter Rennrad-Freiläufe. Von morgens früh bis abends spät nimmt das Klickern und Klackern, das Surren und Plingen täglich zu.  Eine Sound-Probe der Metal-Extraklasse zieht geschmeidig durch das ganze Tal, orchestriert von Pause und Pedal.

Und dann geht es los. Wenn der Startschuss fällt, wird aus dem Freilauf-Surren ein Metal-Smoothie und aus dem Laufrad-Rauschen ein Rausch: zuerst der Massenbewegung, dann der Geschwindigkeit, der grandiosen Landschaft, der Atmosphäre an der Strecke und schließlich jener des eigenen Körpers. Über sich hinauswachsen, bis der Rausch im Zieleinlauf in ein erleichtertes Grundrauschen abdriftet. Gummibärchengeil und endorphingesättigt.

Ernüchterung am nächsten Morgen. Kein Freilauf-Surren mehr, der Start- und Zielbereich ist abgebaut, Rennräder werden eingepackt und nicht gefahren. Es regnet wieder und ich muss noch einmal übers Joch. In Tannheim ist wieder Normalität eingekehrt, an der Bushaltestelle wartet mit mir eine Schulklasse auf den Bus. Nach einigem Diskutieren nimmt mich der Busfahrer trotzdem mit bis Oberjoch, von dort muss ich nur noch hinunterrollen nach Sonthofen. Der Zug ist anfangs noch ganz leer, so habe ich Zeit, mich umzuziehen und sogar Platz genug, das Trekkie zu polieren. Mit nur einem Umstieg in Köln sollte die Rückreise ausnahmsweise mal problemlos fluppen, aber – wie auch nicht anders erwartet – im Nadelöhr Köln wird wieder irgendwo irgendetwas notrepariert, so dass der Anschlusszug hier mit 90 min Verspätung abfährt. Merke: Die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmittel ins Tannheimer Tal ist möglich – ein Spaß ist das nicht!

Gleichwohl für nächstes Jahr schon mal die Marathon-Strecke samt  Riedbergpass ins Auge gefasst. Oder gleich am Mythos “Hohe Acht” schnuppern. Es soll ja Speed-Freaks geben, die sich dafür eine eigene Gehirnregion erschaffen haben, die dann wahrscheinlich dasselbe Höhenprofil wie die Nordschleife hat. So wie in Murakamis “Hard-boiled Wonderland”, dort allerdings nicht freiwillig und meistens tödlich. Und nur der Ich-Erzähler schafft es, in dieser Parallelwelt, also praktisch in seinem eigenen Gehirn, bewusstseinserweiternd spazieren zu gehen. Faszinierend. Aber das ist eine andere Geschichte.