Kürzlich habe ich ein Päckchen “Handmade Chocolate” von der Deutschen Bahn erhalten. In dem Begleitschreiben spricht der Marketingchef im Namen des gesamten Vorstands der DB Fernverkehr AG sein Bedauern darüber aus, dass ich “am 22. Juni 2017 im ICE 542/ICE552 vom Unwetter über Norddeutschland so außerordentlich stark betroffen” war und entwickelt sogar Empathie:
“Ich kann mir vorstellen, dass die Situation ein sehr unangenehmes Erlebnis für Sie gewesen sein muss.”
Sehr geehrter Herr Doktor Peterson, ich glaube nicht, dass Sie auch nur annähernd eine Vorstellung davon haben, was ich in den 26 (in Worten: sechsundzwanzig!) Stunden meiner Bahnreise erlebt habe.
“Deshalb war es mir wichtig, mich über die näheren Umstände und den Hergang zu informieren: Nach einem Blitzeinschlag stand der ICE 542/ICE 552 ab etwa 23.30 Uhr zwischen den Bahnhöfen Bielefeld und Hamm auf freier Strecke nahe Isselhorst – Avenwedde.”
Danke für die Details. Wo immer das sein mag: Mit dem Blitzeinschlag, Herr Doktor Peterson, nähern wir uns bereits dem Ende einer langen Geschichte, die um 5:50 Uhr selbigen Tages in Warschau beginnt und über deren Hergang ich Sie – sozusagen in groben Zügen – erst einmal aufklären möchte. Gerne hätte ich jetzt davon berichtet, dass die letzten Abenteuer in Europa im transnationalen Bahnverkehr mit Fahrradtransport bestehen. Beispielsweise von Marijampolé nach Białystok. Oder von Warschau nach Berlin.
Ach, Deutsche Bahn AG! Das Abenteuer beginnt tatsächlich erst auf den Schienen deines Eisenbahninfrastrukturunternehmens, beispielhaft im EC 176 von Berlin nach Hamburg. Denn angesichts des sich zusammenbrauenden Unwetters über Hamburg haben wir eine einstündige, ungeplante Pause bereits in Neustadt (Dosse) eingelegt. Immerhin können wir so das faszinierende Himmelsschauspiel aus sicherer Entfernung beobachten. Aber als das Unwetter vorüber ist, geht es zurück auf Start, und das heißt nach Berlin. Weil du – Deutsche Bahn AG – die Strecken nach Hamburg und Hannover hast sperren lassen. Vorsorglich!!!
In Berlin herrscht Chaos. Da geht gar nix. Und wo gar nichts mehr geht, warte ich ein paar Stunden äußerlich ruhiggestellt im Kundencenter. Blöderweise muss mein Fahrrad mit nach Münster. Umständlich genug, dass ich 16,9 kg Fahrrad plus Gepäck durch Chaos manövrieren muss. Aber dass ich auch noch eine neue Reservierung brauche, macht die Angelegenheit richtig kompliziert. Okay, okay – Reservierungen sind zuggebunden und mein Zug in Prag. Nach langen Diskussionen mit Zugführern und Vorgesetzten gelingt es dem netten Bahnmitarbeiter jedoch, eine Fahrrad-Reservierung für mich zu ergattern. Das ist grandios! Denn erstens gilt sie für die Direktverbindung nach Münster. Zweitens: mir ist das im Vorfeld nicht gelungen!
Als der Zug gegen 19 Uhr einfährt, herrscht Krieg am Bahnsteig. Irgendwie das Fahrradabteil am Ende des Zuges erreichen, egal, wie – das denken sich auch meine Konkurrenten um die wenigen freien Stellplätze. Im Dschungelkrieg habe ich die Nase vorn. Zwei Packtaschen werden zu Wurfgeschossen, mein Interconti zu Brustpanzer und Speerspitze. Ich habe den Fuß auf der Stufe, hinauf, weiter, der Zug fährt schon los, jemand zieht mich hinein – geschafft! Einen freien Sitz-, Steh- oder Stellplatz gibt es natürlich nicht. Aber Nina Ruge kommt mir in den Sinn: Alles wird gut.
Kurz vor Hannover geraten wir erneut in ein Unwetter: Sturzbäche ergießen sich in die Katakomben des Hauptbahnhofs. Hinzu kommt, dass unser Zugführer nicht noch mehr Überstunden machen darf. Jetzt sind wir wahrhaftig gestrandet: an den Gestaden des Hauptbahnhofs Hannover. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Solidarität zwischen Radreisenden, die zufällig ein Stück Weges gemeinsam haben: ich passe auf die Räder auf und du versuchst, an Informationen zu kommen … Aber es gibt keine Informationen. Nur den Zufall und ein bisschen Glück: Auf dem gegenüberliegenden Gleis hält ein ICE mit Zielrichtung Hamm. Eine Radfernreisende aus Warschau (war das tatsächlich erst heute Morgen oder nicht doch schon Gestern?) und eine Triathletin mit Rennmaschine, die am nächsten Tag einen Wettkampf bestreiten will, erobern das letzte Zugabteil. Wir fahren Richtung Hamm.
Jedenfalls so lange, bis ein lauter Schlag das gleichmäßige Dahingleiten unterbricht, der Zug rollt langsam aus, steht schließlich still.
So, Herr Doktor Peterson, jetzt kommen wir zusammen:
“Nach einem Blitzeinschlag stand der ICE 542/ICE 552 ab etwa 23.30 Uhr zwischen den Bahnhöfen Bielefeld und Hamm auf freier Strecke nahe Isselhorst – Avenwedde. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich umgestürzte Bäume auf den Gleisen, die vor und hinter dem Zug große Teile der Oberleitung herabgerissen hatten. Um eine Gefährdung für die Reisenden in dieser Situation auszuschließen[,] war deshalb ein Ausstieg nicht vertretbar. Unsere Notfallmanager waren sofort im Einsatz.”
Mag sein, dass die Notfallmanager sofort im Einsatz waren. Vor Ort waren sie nicht.
“Bevor der Zug jedoch evakuiert werden konnte, mussten die Stromleitungen von Bahntechnikern gesichert und geerdet werden. Die Arbeiten in der Nacht haben mehrere Stunden gedauert.”
Diese Arbeiten haben so lange gedauert, dass offensichtlich entschieden wurde, den Zug überhaupt nicht mehr zu evakuieren. Und die Reisenden stattdessen in einem Zug zu belassen, in dem das Notstromaggregat nur notdürftig Licht gab und der Zugführer aus Sparmaßnahmen keine Verbindung mehr aufgenommen hat. Mit Ansage natürlich.
“Ich kann nachvollziehen, dass die lange Wartezeit im stromlosen Zug sehr unangenehm für Sie war.”
Gefangen im stromlosen Zug, hungrig und durstig, aufgrund von Personalmangel geschlossener Speisewagen, kein Licht, keine Klimaanlage, keine Vakuumabsaugung bei den Bordtoiletten und die Lounge-Sessel in der 1. Klasse nicht klappbar … Ja, das war sehr unangenehm!
“Erst am Freitagmorgen konnte der Zug nach Gütersloh geschleppt werden, wo Sie dann in einen anderen Zug umsteigen konnten.”
Nun, so einfach war der Umstieg nicht, denn ich hatte ja immer noch mein Fahrrad dabei und der andere Zug war – richtig – ein ICE … Der in der Nacht versprochene Notfallmanager war nun tatsächlich in Gütersloh am Gleis und hat flugs aus dem Fahrrad einen Notfall gemacht. Das nennt man dann Krisenmanagement: wie es denn sein könne, wer das zugelassen habe, das könne doch gar nicht, dass ich überhaupt im ICE[!] usw. usf. und nein, ich könne jetzt auf keinen Fall in den ICE 552, NICHT ERLAUBT! VERBOTEN! VERBOTEN! SONDERGENEHMIGUNG, WARTEN! WARTEN! WARTEN!
Ich hatte keine Wahl: die andere Strecke war ja wegen des Oberleitungsschadens in Folge des Blitzeinschlages gesperrt … Aber schließlich einigten wir uns darauf, dass ich – vorausgesetzt ich hielte mein Fahrrad für die Fahrtdauer fest – im ersten Abteil bis Hamm – und nur bis dorthin – mitfahren durfte. Geht doch. In Hamm dann wenigstens Anschluss nach Münster im Pendlerzug … Geht auch: this is not Cologne. Oder Leverkusen.
“Bitte seien Sie versichert, dass eine solche Situation auch für uns nicht alltäglich ist. Mir ist bewusst, dass der nächtliche Abbruch Ihrer Reise, die lange und unbequeme Wartezeit an Bord des Zuges und die sehr verspätete Ankunft am nächsten Tag sehr unschöne Erfahrungen sind.”
A propos Verspätung: Ankunft in Münster am Freitag, 23. Juni gegen 8 Uhr, Verspätung circa 14 Stunden, Reisezeit insgesamt rund 26 Stunden. Unschön.
Zur Sache, Herr Doktor:
“Als Wiedergutmachung lege ich diesem Brief einen Gutschein über 150 Euro bei, den Sie innerhalb eines Jahres beim Kauf neuer Fahrkarten nutzen und dazu eine Schachtel Spezialitäten aus dem Hause Dreimeister. Selbstverständlich wird Ihre Fahrkarte komplett erstattet.”