Man nehme eine Kirche mit ausreichend hoher Vierungskuppel, einen der bestbezahlten zeitgenössischen Künstler, ein Quantum Naturwissenschaft und fertig ist die Sensation: Gerhard Richter schenkt der Stadt Münster ein Kunstwerk. Wissenschaftliches Experiment beweist die Erdrotation. Die Inquisition entlässt ihre Kinder.
Kunst und Wissenschaft statt Gott
Dass sich die Dominikaner von Anbeginn sehr für die Inquisition engagiert haben, ist vielleicht nicht mehr als eine Randnotiz. Denn die Kirche, um die es geht, ist vor Richters Invasion selbstverständlich profaniert worden. Zu behaupten, die ehemaligen Verfolger eines neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Denkens hätten letztendlich den einstmals verfolgten Häretikern nun Tür und Kuppel geöffnet, ist deshalb ein wenig überspitzt. Kein Triumph der Naturwissenschaft über den Glauben? Richter soll bei der Eröffnung von einem “kleinen Sieg der Naturwissenschaft über die Kirche” gesprochen haben. Na also, sie bewegt sich doch.
Geschenke, Geschenke …
Sensationell hingegen die in Umlauf gebrachte These, Gerhard Richter habe der Stadt ein Geschenk gemacht. Der Aufwand für Herstellung, Installation und notwendige Renovierungsarbeiten belief sich auf 650.000 Euro. Den größten Teil – nämlich 600.000 Euro – haben die Förderer übernommen: das Land Nordrhein-Westfalen, die Stiftung der Sparkasse Münsterland Ost, der Verein der Kaufmannschaft zu Münster sowie der Freundeskreis der Kunsthalle Münster. Bleibt eine Finanzierungslücke von 50.000 Euro für die Stadt Münster. Seien wir nicht kleinlich: 50.000 Euro für einen echten Richter sind ja nun wirklich praktisch … geschenkt. Da hat sich der Künstler wohl selbst das allergrößte Geschenk gemacht.
Über die Kreisbewegung der Himmelskörper
Vermutlich war Claudius Ptolemäus (um 100-160 n. Chr.) einfach der bessere Mathematiker, dass sich seine präzisen Berechnungen und Vorhersagen gegen die kühne Theorie eines Aristarchos von Samos (um 310-230 v. Chr.) zum heliozentrischen Weltbild durchsetzen konnten. Und natürlich passte die Vorstellung von der Erde als Centrum Mundi auch viel besser zum christlichen Weltbild, so dass sie über Jahrhunderte hinweg von der Kirche verteidigt wurde. Erst Nikolaus Kopernikus (1473-1543) brachte mit seinen Gedanken zu den Kreisbewegungen der Himmelskörper (De revolutionibus orbium coelestium, Nürnberg 1543) wieder Bewegung [sic!] in die Sache. Denn wenn die Sonne Mittelpunkt der Welt sein soll, muss die Erde sich zwingend drehen. So weit die Theorie.
Den experimentellen Nachweis für die Erdrotation hat Léon Foucault 1851 geführt, als er ein 67 Meter langes Pendel im Pariser Pantheón einer breiten Öffentlichkeit vorstellte. An den Kugelkörper hatte Foucault eine Spitze angebracht, die sehr anschaulich die Bewegung des Pendels im Sand aufzeichnete.
Der Aufbau des Pendels in der Münsterschen Dominikanerkirche ist dem Foucault’schen Versuchsaufbau vergleichbar.
Bloß wird heutzutage niemand allen Ernstes anzweifeln, dass die Erde eine Kugel ist, sich in elliptischer Bahn um die Sonne und außerdem um ihre eigene Achse dreht.
Worum also geht es bei Gerhard Richter?
Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel, 2018
In der Vierungskuppel ist ein 28,75 Meter langes Stahlseil befestigt, an dem eine nicht magnetische, diffus spiegelnde Metallkugel hängt. Ein so genannter Charron-Ring unterhalb des Aufhängepunktes, an dem das Seil anstößt, verhindert den Einfluss störender Bewegungen aus der Umgebung. Statt einer Nadelspitze besitzt Richters Pendel unterhalb der Kugel einen stabförmigen Magneten, der bei jeder Pendelbewegung einen elektromagnetischen Impuls erhält und so für eine stets gleichbleibende Schwingungs-Amplitude sorgt. Die Pendelbewegung ist gleichförmig und störungsfrei. Für die konkav gewölbte Schwingungsebene hat Richter Grauwacke verwendet, ein 380 Millionen Jahre altes Sedimentgestein. Der äußere Kranz zeigt eine 360°-Winkelmaßskalierung, in Zwölferschritten graviert. Der Nullpunkt der Skala liegt auf der Längsachse der Kirche und weist nach Westen.
An den Seitenschiffwänden wird das Pendel von je zwei hochrechteckigen Doppelspiegeln an den Seitenschiffwänden gerahmt. Die vollflächige Emallierung der Spiegel-Rückseiten umfasst drei verschiedene Grautöne.
Bewegung im rotierenden Bezugssystem
Wer sich lange genug in den Anblick der gleichförmigen Pendelbewegung vertieft, wird früher oder später die Rotation der Schwingungsebene bemerken. Das Pendel bewegt sich im Uhrzeigersinn, deutlich erkennbar am Pendelausschlag über einer höheren Winkelmaßzahl.
Die verbreitete physikalische Erklärung lautet, dass die Erde sich unter der Pendelbewegung wegdrehe. Was nicht so ohne Weiteres einleuchtet, schließlich befinden sich Pendel und Betrachter im selben Bezugssystem. Kein Gott und kein Gerst, der für einen extraterrestrischen Aufhängepunkt sorgte.
Hier kommt die Corioliskraft ins Spiel, die einen bewegten Körper (das Pendel) quer zu seiner Bewegungsrichtung ablenkt, wenn die Bewegung relativ zu einem rotierenden Bezugssystem (der Erdoberfläche) beschrieben wird. Die Corioliskraft, die auf die Erdrotation zurückgeht, wirkt auf alle sich auf der Erde bewegenden Objekte und lenkt die Bewegung entgegen der Rotationsrichtung ab. Das ist auf der Nordhalbkugel im Uhrzeigersinn.
Wer das begriffen hat, ist der Erkenntnis schon einen großen Schritt näher gekommen. Alle anderen konsultieren Wikipedia.
Reflexionen
Wir haben viel Zeit mitgebracht und uns in die Pendelbewegung vertieft, haben uns das erste Mal seit unserer Schulzeit mit Bewegung in rotierenden Bezugssystemen auseinandergesetzt und Gott aus diesem System verbannt. Der Pendelausschlag dreht sich immer noch im Uhrzeigersinn, wie seit Millionen von Jahren die Grauwacke in Gegenrichtung mit der Erde rotiert. Die Pendelkugel wirft ein mattes Spiegelbild zurück und in den grauen Spiegeln erblicken wir schemenhaft unser Abbild, desgleichen ein Schatten in Platons Höhlengleichnis. Denn das Abbild im grauen Spiegel ist nur ein kleiner Teil des sinnlich Wahrnehmbaren und es verdichtet sich rasant mit zunehmender Spiegelungsanzahl. Kein sich unendlich potenzierender Abbildungsvorgang der frontal gegenüberliegenden Spiegelpaare, sondern ein undurchdringlicher Graufilter. Grundlegende Skepsis bricht sich Bahn gegenüber sinnlicher Wahrnehmung und ihrem Erkenntnisgewinn. Vornehmlich in geschlossenen Systemen.