Die Wirklichkeit als Schatten der Kunst. Spiel und Vielzahl möglicher Welten.
Zwischen Farbe und Leinwand öffnet sich das Bild und enthüllt eine eigene Wirklichkeit. Unrettbar verloren ist, wer der Sogwirkung der sich öffnenden Bildwelt nicht zu widerstehen vermag und sich immer tiefer hineinbegibt. Das jedenfalls suggeriert Ulrich Tukur in seiner Novelle “Die Spieluhr”, in der er mit verschiedenen Zeit- und Wirklichkeitsebenen spielt und letztlich die Frage nach der einen Wirklichkeit offen lässt. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Welten, zwischen Wahn, Traum und Phantasmagorie sind fließend – das eine ist so real wie das andere.
Zwischen den bunt gefiederten Blättern und Tiermäulern, den exotischen Früchten und Blumen sahen mich umwimperte Augen an, und plötzlich begann sich alles zu drehen, und im gelben, smaragdgrünen und herbstroten Wirbel entfesselter Farben öffnete sich der türkisblaue Grund, und ich trat in einen dämmrigen Laubengang, an dessen entferntem Ende, weit, eine Gestalt auftauchte, die durch Streifen aus Licht und Schatten auf mich zulief.
Ulrich Tukur, Sie Spieluhr
Ausgangspunkt der Novelle ist die Begegnung zwischen der französischen Malerin Séraphine Louis (1864-1942) und dem deutschen Kunstkritiker Wilhelm Uhde (1874–1947), ihrem Entdecker und Förderer. Martin Provost hat die Geschichte 2008 zu dem Film “Séraphine” inspiriert, mit Ulrich Tukur in der Rolle des Wilhelm Uhde. Die Dreharbeiten zum Film bilden die Rahmenhandlung der Novelle, bei der die Suche des Filmteams nach Originalschauplätzen unversehens ins Phantastische abgleitet.
Gemälde entfalten ihre Magie zwischen Objekt und Tableau Vivant, verwehte Cembalomusik lockt immer tiefer in das Labyrinth vergessener Geheimgänge in einem verwunschenen Schloss. Einmal die Zeitschwelle überschritten, öffnet sich dem Suchenden Bildwelt um Bildwelt ohne Garantie, jemals wieder zurückzufinden. Er bleibt verschwunden – oder lebt in verschiedenen Welten gleichzeitig.
Die Aufmachung mit Leineneinband, Lesebändchen und Goldprägung orientiert sich – als Reminiszenz an die Epoche der Ursprungsgeschichte – am Jugendstil. Das Bemühen um eine adäquate Sprache führt zu einem Hauch von Patina auf den Sätzen, die zwar präzise beschreiben, gelegentlich aber zu viel Pathos auftragen. Wer sich von dem phantastischen Gehalt der Geschichte nicht abschrecken lässt und Tukur in sein Verwirrspiel folgt, kann tief eintauchen in die magischen Welten hinter den Bildern, immer mit der Frage im Hinterkopf: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
Beinahe schelmisch kommt das Frontispiz daher, das in schablonenhafter Darstellung Blumen und Sträucher zeigt, mittendrin ein Schlüssel sowie eine Teufelsmaske in der Spitze. Das kann symbolisch verstanden werden: Im teuflischen Vexierspiel von Blumenranken und Spieluhrmotiv der Novelle liegt der Schlüssel …