“Vielleicht ist der Flieder die Blume, die auf die üppigste Weise weiblich ist”, schreibt John Berger (1926 – 2017) in “Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos”. Und: “Der Fliederduft, hast du einmal gesagt, ist vom Geruch der Kühe im Stall nicht so weit entfernt. Beide sind Gerüche des Friedens und des Zauderns.”
Über die Vergänglichkeit
Die Liebe hat bei Berger viel mit dem üppigem Flieder zu tun, der sein glühendes Geheimnis nur als Reflexion im Spiegel offenbart, wenn die Strahlen der Abendsonne ihn rückseitig erleuchten. Sie fungiert als Gegenentwurf zur Vergänglichkeit, die John Berger immer noch am meisten interessiert: die Vergänglichkeit der Zeit, der Verlust eines “Zuhause”, das Verschwinden von Gesichtern. Nichts bringt das besser auf den Punkt als dieses Wörtchen “einst”, das jeder Kapitelüberschrift im ersten Teil des Buches, der von der Zeit handelt, vorangestellt ist: … da lebte einst, Einst, in einer Geschichte oder Einst, im Leben …
Die Vergänglichkeit ist dem genetischen Code eingeschrieben. Wäre sie das nicht, wäre jegliche Reproduktion überflüssig und es gäbe keine Sexualität. Deshalb widersetzt sich die Sexualität mit Macht dem Strom der Zeit hin zur Vergänglichkeit und konstituiert in einem “zeitlichen Kurzschluss” die Zukunft. Das Sein wird zwischen diesen widerstrebenden Kräften im Gleichgewicht gehalten. Das Dasein jedoch ist dem Verschwinden anheim gegeben.
Zeit und Raum
Zeit und Raum bestimmen als grundlegende Kategorien unser Dasein. John Berger nähert sich beiden aus stets wechselnden Blickwinkeln: Liebe und Tod, Nähe und Distanz, Ewigkeit und Vergänglichkeit, das Sichtbare und das Unsichtbare, Wirklichkeit und Imagination, Prosa und Poesie. Großen Wert legt Berger auf die Feststellung, dass trotz aller mechanistischen Zeitvorstellungen Zeit als etwas erlebt wird, das in unterschiedlichen Geschwindigkeiten verläuft. Und zwar abhängig von der Dichte der Erfahrung.
Einstein hat radikal mit der Vorstellung einer objektiven Zeit aufgeräumt. Berger spricht von zwei Zeiten, der Zeit des Körpers und jener des Bewusstseins, zwischen denen das Subjekt sich wiederfindet.
Kennzeichnend für den modernen Menschen ist weiterhin der Verlust jenes Ortes, der den Schnittpunkt zweier Lebenslinien bildet: der vertikalen Linie, die von den Göttern im Himmel in die Unterwelt führt, und der horizontalen Vernetzung mit der Welt. Berger nennt diesen Ort den “Mittelpunkt der Welt” und das “Zuhause”. Flucht, Vertreibung und Migration demontieren dieses Zentrums der Welt, die für den modernen Menschen eine fragmentarische wird.
Von daher die Bedeutung der romantischen Liebe mit dem Versprechen nach Vervollständigung und Totalität. Die Liebe zielt darauf, jede zeitliche und räumliche Entfernung zu überbrücken, ebenso wie die Poesie. Laut Berger vermag die Liebe die Sehnsucht nach einer Verortung der genannten Lebenslinien zu erfüllen.
Einst, in der Zukunft
Alles verschob sich. Nicht einfach nur die drei Birnbäume und ihre Anhöhe. Die andere Seite des Tals, die Wälder, die Berge, die abgeernteten Felder, die Millionen Bäume verschoben sich. Die Berge waren höher, jeder Baum und jedes Feld näher herangerückt. Alles Sichtbare näherte sich mir. Ober besser gesagt, alles näherte sich dem Platz, wo ich mich aufgehalten hatte, denn ich war nicht länger an jenem Platz. Ich war überall […]”
Wie die Liebe beispielhaft anfängt, beschreibt Berger in einer berührenden Skizze: Ein Mann recht Heu auf einer Anhöhe und nimmt von der Landschaft ringsum nicht sonderlich Notiz. Bis er den auf ihm ruhenden Blick spürt und seine Wahrnehmung und sein Handeln sich unter diesem wohlgefälligen Blick verwandeln. Unwissend, von wem oder von was diese Kraft der Verwandlung ausgeht, da drei Birnbäume ihm die Sicht versperren, erfüllt ihn dennoch diese Energie. Was hier passiert, nennt Berger aus retrospektiver Sicht eine “Liebesverschmelzung”.
Was mich mehr als irgendetwas sonst mit meinem eigenen Tod aussöhnt, ist das Bild eines Ortes: eines Ortes, wo deine Gebeine und meine bestattet, unbedeckt zueinandergeworfen sind. Sie sind dort wild durcheinandergestreut. Eine deiner Rippen lehnt gegen meinen Schädel. Ein Mittelhandknochen meiner linken Hand liegt innerhalb deines Beckens. […] Mit dir kann ich mir einen Ort vorstellen, wo es genügt, Kalziumphosphat zu sein.
Neu sind Bergers Gedanken nicht, der schmale Band ist 1984 erstmals publiziert worden. Mögen auch andere Zeiterfahrungen in den letzten 30 Jahren hinzugekommen sein, die Grundkonfiguration des modernen Menschen unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was Berger in der ihm eigenen Weise beschrieben hat: mal mit prägnanter Wucht, gelegentlich nur vage andeutend und mitunter die Perspektive wechselnd von einem Satz auf den nächsten, gar zärtlich direkte Ansprache an die Liebste einstreuend. Für die Erfüllung des Totalitätsversprechens der Liebe oder wenigstens für die Hoffnung auf deren Erfüllung hat Berger ein Bild gefunden, das er am Ende seines Buches malt. Am Ort der absoluten Liebesverschmelzung besteht das Sein aus reinem Kalziumphosphat. Folgt man Berger bis hierhin, hat das Bild tatsächlich etwas Versöhnliches.